Muskelzerrung – Richtig behandeln, chronische Schäden verhindern
1. Definition und Abgrenzung
Eine Muskelzerrung (
Abgrenzung:
•Muskelhartspann = funktionelle Dauerspannung ohne Gewebeschaden
•Muskelfaserriss = strukturelle Ruptur mit Hämatom und sofortigem Funktionsverlust
2. Physiologie – Schwellung zuerst, Ödem später
2.1 Akute Phase – Schwellung
•Mikrotraumata in den Sarkomeren führen zu Zellfragmentation.
•Es entsteht eine Schwellung (Zellfragmente + Flüssigkeit).
•Das mononukleäre Phagozytensystem (Makrophagen) räumt Zelltrümmer ab.
•Ein Thrombozyten-Pfropf
2.2 Übergang zum Ödem – wenn Schwellung liegen bleibt
•Werden Zellfragmente nicht rechtzeitig abtransportiert, lagern sich Eiweiße im Interstitium ab.
•Eiweiß zieht osmotisch Wasser → sekundäres Ödem → Gefahr von:
•Eiweißsklerose
•Chronischer Entzündung
•Fibrotischen Umbauprozessen
Die ersten 5–7 Tage entscheiden über schnellen Heilungserfolg oder chronische Beschwerden.
3. Klinische Zeichen – Zerrung vs. Faserriss
Muskelzerrung
•Plötzlicher „Stich“ im Muskel – scheinbar aus dem Nichts
•Bewegung kann reduziert weitergeführt werden
•Typisches Bild: Sportler „trudelt aus“, greift sich an die betroffene Stelle
•Faszie meist intakt → kein Hämatom sichtbar
•Bei Faszienbeteiligung kann nach Tagen ein Hämatom auftreten
Muskelfaserriss
•Starker, stechender Schmerz, oft mit hörbarem oder fühlbarem „Schnappen“
•Bewegung sofort unmöglich, Sportler fällt oder stoppt abrupt
•Hämatom entwickelt sich meist innerhalb von Stunden bis Tagen
4. Entstehung und Risikofaktoren
Sportliche Ursachen
•Sprints, abrupte Richtungswechsel, explosive Bewegungen
•Exzentrische Belastung bei ermüdetem Muskel
•Fehlendes dynamisches Warm-up
Alltagsfaktoren
•Abgelaufene Laufschuhe
•Alte oder harte Einlagen
•Übertraining und mangelnde Regeneration
5. Behandlung – modernes Akutmanagement
5.1 Die ersten 48 Stunden – Kompression & Lymphdrainage statt Eis
Warum Eis kritisch ist
•Kälte → kurzfristige Vasokonstriktion, danach reaktive Hyperämie
•Kann Schwellung verstärken ([Bleakley et al., 2012, BJSM])
•Nur analgetisch, nicht heilungsfördernd
6. CAVE – Die 10 wichtigsten Regeln
A. Bewegung & Belastung
1. Nicht weiterlaufen! Jeder Schritt vergrößert das Mikrotrauma.
2. Kein hartes Dehnen oder aggressive Massage in der ersten Woche!
•Begründung: Thrombozyten-
3. Funktionelle Ruhe statt Immobilisation – leichte, schmerzfreie Bewegung erlaubt.
B. Kompression & Lymphdrainage
4. Kompression ja – aber richtig!
•Moderater Druck, arterielle Perfusion erhalten
•Von distal nach proximal wickeln, funktionell anlegen
•Praktischer Tipp:
Nach der Lymphdrainage nutze ich Luftkammerpolster aus der Verpackungsindustrie(z. B. Glas-Transportschutz).
Diese passen sich ideal an, verhindern punktuelle Druckspitzen und sorgen für eine gleichmäßige Druckverteilung.
5. Lymphdrainage so früh wie möglich – ab Tag 0–1
•Entfernt Zellfragmente, entlastet Makrophagen, verhindert sekundäres Ödem
•Athleten-Tipp:
Bauchatmung 3–5× täglich 10–15 Wiederholungen unterstützt den Lymphfluss (Zwerchfell = natürliche Lymphpumpe).
C. Medikamente & Salben
6. Keine NSAR (z. B. Ibuprofen) in den ersten 3 Tagen!
•Hemmt Thrombozytenfunktion, verändert Eiweiße und verzögert Heilung
7. Keine entzündungshemmenden Salben (Voltaren, Diclofenac)
8. Keine naturheilkundlichen Mittel wie Traumeel oder Arnika in den ersten 3 Tagen
•Auch natürliche Entzündungshemmer stören den Reinigungsprozess
D. Belastungsaufbau
9. Dehnung erst ab Tag 5–6, vorsichtig und funktionell
10. Belastung erst nach therapeutischer Freigabe und schmerzfrei
7. Subakute Phase (ab Tag 4–5)
•Lymphdrainage bleibt das wichtigste Modul – Heilungszeitverkürzung um bis zu 30 % ([Hildebrandt et al., 2010])
•Deep Oscillation unterstützt Stoffwechsel & Gewebeheilung
•Trainingstherapie: isometrisch → exzentrisch
•Dehnung ab Tag 5–6, dosiert
•Chiropraktik nur bei segmentalen Funktionsstörungen
8. Zusatzmodul: Interferenzstrom
•3 Tage in Folge, 40 Min pro Tag
•Plattenelektroden (keine Vakuumelektroden)
•2- oder 4-polig, je nach Region
•Vorteile:
•Schmerzreduktion (Gate-Control)
•Verbesserung der Mikrozirkulation und des Lymphflusses
•Keine mechanische Reizung des verletzten Gewebes
9. Prognose: Verletzungsort beeinflusst Heilung
•Proximale Hamstring-Zerrungen (Richtung Sehne/Tuber ischiadicum) heilen deutlich langsamer → Geduld und konsequente Therapie erforderlich
•Mediale Zerrungen (weiter vom Sehnenansatz entfernt) heilen schneller
10. Prävention
•Exzentrisches Training (Hamstrings, Adduktoren)
•Regeneration (HRV, Schlafqualität)
•Schuhe nach spätestens 800 km wechseln
•Dynamisches Warm-up statt statisches Dehnen
11. Fazit
Muskelzerrung ist eine Schwellung mit Zellfragmenten, die bei falscher Behandlung in ein chronisches Ödem übergehen kann.
Moderate Kompression, frühzeitige Lymphdrainage, 5–6 Tage Dehnungsverbot, keine Medikamente in den ersten 3 Tagen und gezielter Interferenzstrom sind entscheidend.
Eis ist nur Schmerztherapie, kein Heilungsbeschleuniger.
Quellen
•Jarvinen T. et al. (2014). Best practice for the management of soft tissue injuries in sports.
•Bleakley C. et al. (2012). Is ice still the best practice? British Journal of Sports Medicine.
•Hildebrandt G. et al. (2010). Manual lymph drainage in sports injuries. Clinical Rehabilitation.