Das Low – Back Pain Syndrom

Das Low – Back Pain Syndrom

Einleitung

Bandscheibenbedingte Erkrankungen zählen zu den häufigsten Erkrankungen der Bevölkerung. 60-80% der Menschen leiden zeitweilig, 20-30% chronisch darunter. Diese Gruppe verschlingt 80% aller Kosten, die für Diagnostik und Therapie aller Wirbelsäulenerkranken aufgewendet werden. Eine Altersprävelanz ist zwischen 35-55 Jahren erkennbar, bei einer erwerbstätigen Bevölkerungsgruppe also, die auch einen wesentlichen volkswirtschaftlichen Faktor bezüglich Arbeitsausfällen, Umschulungen oder gar Berentungen ausmacht.

Etwa 20% aller krankheitsbedingter Arbeitsniederlegungen und 50% der vorzeitig gestellten Rentenanträge werden auf Grund dieses Leidens gestellt (Krämer, 1994). Zwei drittel aller bandscheibenbedingten Erkrankungen betreffen dabei die Lendenwirbelsäule. Fast 50% der Patienten der orthopädischen Fachpraxis suchen ihren Arzt aufgrund degenerativer Wirbelsäulenerkranken auf, wobei vor allem Patienten des fünften Lebensjahrzents betroffen sind. Dem Low-Back Syndrom liegt in der Regel eine Bandscheibendegeneration zugrunde. Die Inzidenz der Lumboischialgien liegt bei etwa 150/ 100000 Einwohner (Deyo, Tsui-Wu, 1987).

In den USA klagen schätzungsweise 70-80% der Erwachsenen mindestens einmal im Leben über Rückenschmerzen, wovon etwa 90% innerhalb eines Monats ohne Therapie verschwinden (Deyo, Tsui-Wu, 1987). Chronische Rückenbeschwerden führen häufig zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen.

Re-Training (=Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, speziell der Faktoren Kraft und Beweglichkeit v.a. des Rumpfbereiches) wird zunehmend als eine entscheidenden operationsverhindernden Behandlungsmodalitäten angesehen. Chronische Kreuzschmerzpatienten weisen oft eine atrophierte paraverteprale Rückenmuskulatur, v.a. der Lumbalextensoren, auf. Diese Tatsache beruht oft auf einer selbstauferlegten, in noch immer nicht ganz seltenen Fällen aber auch auf einer iatrogenen Schonhaltung mit der Konsequenz einer Verschlechterung des physischen, aber auch psychischen Zustands, da die Patienten allmählich nicht mehr in der Lage sind, Freizeitbeschäftigungen (Sport, Kultur) nachzugehen, die vor dem Auftreten der Beschwerden einen integralen Bestandteil ihrer Lebensführung ausmachten. Das Organ Wirbelsäule kann zum negativ-dominierenden Lebensfaktor avancieren.

Kinematik der LWS

Bei einen 70kg schweren Menschen schwankt die Bandscheibenbelastung je nach Körperlage:

  • In der Rückenlage beträgt der Lastendruck 30 kp
  • Im aufrechten Sitzen 100 kp
  • Beim Lachen 120 kp
  • Beim Anheben von 20kg mit vorgebeugten Rücken steigt der Druck auf 340 kp

Die Stöße beim Trampolinspringen oder Traktorfahren liegen zwischen 200 und 350 kp (Münchinger 1964). Beim Sturz auf das Gesäß können Kräfte zwischen 400 und 800 kp einwirken. Auf der Lendenwirbelsäule (LWS) lastet bspw. Im Stehen ein erheblich größerer Gewichtsdruck als auf der BWS oder HWS. Der Berstungsdruck der Lendenwirbelsäule liegt zwischen 730 kp (Sonoda 1962 bzw. 820 kp (Christ und Dupuis 1961).

Eine frische Leichenwirbelsäule, völlig frei präpariert von Muskulatur, toleriert lediglich eine axiale Stauchungsbelastung von maximal 2 kp, ohne sich zu verformen und instabil zu werden.

Eine Stabilisierung der Bewegungssegmente der Wirbelsäule wird vor allem durch das Muskelkorsett gewährleistet (primär durch die Lumbalextensoren, sekundär durch den intraabdominellen Druck, der sichergestellt wird primär durch eine kräftige Bauchmuskulatur).

Bei vielen chronischen Kreuzschmerzpatienten liegt eine Segmentinstabilität vor. Konsekutive Wirbelgelenkblockaden sind häufig 8Schutzmechanismus der Wirbelsäule zur Herstellung von Stabilität). Hypermobile und hypomobile Segmente bestehen gleichzeitig nebeneinander. Die Schmerzen im Bewegungssegment führen zu einer reflektorischen Schmerzhemmung der Muskulatur mit einen Verlust von Kraft, Ausdauer u. koordinativen Fähigkeiten. Ferner können muskuläre Dysbalancen auftreten, welche die Haltungsinsuffizienz des Körpers fixieren oder gar verstärken.

Das klassische Fehlhaltungsmuster des chronischen Wirbelsäulenpatienten umfasst:

  • Ventral gekipptes Becken mit Insuffizienz der Wirbelsäulenextensoren bei gleichzeitigem Hypertonus dieser Muskeln
  • Schwäche der Bauch- und Glutealmuskulatur
  • Verkürzung des Iliopsoas und der ischiocuralen Muskulatur
  • Hypertonus von Teilen des Glutaeus maximus et. medius, M. piriformis, M. tensor faciae
  • Rundrücken mit abstehenden und/oder hängenden Schulterblättern (Scapula alata wegen Insuffizienz der Schulterblattfixatoren bei verkürzter Brustmuskulatur
  • Hartspann der Schulter / Nackenmuskulatur

Vorraussetzungen für eine exakte muskuläre Funktionsdiagnostik der LWS

In nur 10-15% der Fälle von chronischen Kreuzschmerz ist es möglich, eine symptombezogene Diagnose zu stellen. Da in den letzten Jahren insbesondere die Schwäche der lumbalen Extensoren als primärer Risikofaktor für den lumbalen Kreuzschmerz erkannt wurde, muss die Funktionsfähigkeit dieser Muskeln diagnostiziert werden. Diese ist wichtig zur Objektivierung funktioneller Defizite, zur Planung des Therapieprogrammes und zur Dokumentation der Therapieeffizienz.

Zur Durchführung einer exakten Diagnostik sind folgende Vorraussetzungen erforderlich:

  1. Isolationstesting der lumbalen Extensorenmuskeln (Testing nach Daniels)
  2. Isometrisches Testen über den ganzen Bewegungsumfang
  3. Muskelfasertypisierung mittels Erschöpfungsreaktion

1. Isolationstesting der lumbalen Extensorenmuskeln

Damit die lumbalen Extensorenmuskeln isoliert getestet und therapeutisch angegangen werden können, müssen die Muskeln, die das Becken kippen, ausgeschaltet werden. Dazu ist eine Beckenstabilisierung erforderlich.

2. Isometrisches Testen über den ganzen Bewegungsumfang

Bei dynamischen Krafttestings entsteht als Fehlerquelle die intramuskuläre Reibung, welche mit zunehmender Bewegungsgeschwindigkeit anwächst. Dynamische Kraftkurven (Isokinetik) gliedern sich in eine Acelerationsphase, isotonische Phase und Decelerationsphase. Aussagekräftig ist lediglich die isotonische Phase. Der Informationsverlust bei einem isokinetischen Krafttesting hängt ab von der Bewegungsgeschwindigkeit und kann bis zu 50% des gesamten Bewegungsumfanges beim Testen der lumbalen Extensoren betragen. Außerdem enstehen bei dynamischen Krafttestings Beschleunigungskräfte (impact forces), die mehrere 100% der gegebenen Gewichtsbelastung erreichen können. Dies bedeutet eine erhebliche Verletzungsgefahr.

Das isometrische Krafttestings ist verletzungssicher, weil keine nennenswerte Beschleunigungskräfte auftreten. Es vermeidet die Fehlerquelle intramuskulärer Reibung und ermöglicht exakte krafttestings über den gesamten Bewegungsablauf. Die normale isometrische Kraftkurve der lumbalen Extensoren ist linear abfallend von der Flexion zur Extension. Beim testen der Kraft in nur eine Position oder nur in der vollständigen Flexion oder Extension würden abnorme Kraftentwicklungen oder ein Kraftabfall nicht erkannt. Auch die Veränderung der Kraftentwicklung durch die Therapie bliebe unerkannt. Für eine exakte Diagnostik ist deswegen notwendig, die Kraft der lumbalen Extensoren in verschiedene reproduzierbare Messpositionen über den ganzen Bewegungsablauf zu testen.

3. Muskelfasertypisierung mittels Erschöpfungsreaktion

Jeder Muskel setzt sich aus unterschiedlichen Fasertypen zusammen. Die Kenntnis dieser Zusammensetzung ist (bei ausbleibenden Therapiefortschritt) erforderlich zur Festlegung der optimalen Therapieintervalle. Da die Beziehung zwischen der Muskelfasertyp – Zusammensetzung und der Erschöpfungsreaktion gut untersucht ist, bietet sich folgendes 3-teiliges Testverfahren an:

Nach der Messung der frischen Kraft wird eine dynamische Auslastung mit eigenem Körpergewicht durchgeführt. Anschließend wird die Restkraft nach der momentanen Erschöpfung gemessen. Die Differenz zwischen beiden Testtings zeigt die Erschöpfungsreaktion

  • Fast-twitch Fasern (30 % aller Probanden)
  • Slow-twitch Fasern (10 % aller Probanden)
  • Gemischter Fasertyp (60% aller Probanden)

Um einen optimalen Kräftigungseffekt zu erreichen, müssen Patienten mit unterschiedlicher Erschöpfungsreaktion sowohl mit unterschiedlichem Trainingsumfang als auch mit unterschiedlichen Trainings 7 Therapieintervallen behandelt werden.

Muskelphysiologie und Prinzipen des Widerstandtrainings

Um die Kraft und Ausdauer der lumbalen Muskulatur verbessern zu können, ist es wichtig, die physiologischen Grundlagen und Trainingsprinzipien zu kennen. Die Aufgabe des Muskels ist es, Spannung zu produzieren. Muskelkraft ist definiert als die maximale möglichkeit Spannung, die ein Muskel durch Kontraktion entwickeln kann. Muskuläre Ausdauer ist definiert als die Fähigkeit eines Muskels, wiederholt Kontraktionen unter submaximaler Belastung zu leisten.

Beide Faktoren spielen eine wesentliche Rolle in der Therapie und Prävention des lumbalen Kreuzschmerzes und können verbessert werden durch ein progressives Widerstandstraining. Der physiologische Kräftigungsprozess ist komplex und umfasst neurologische und biochemische Anpassungserscheinungen. Muskelkraft und Ausdauerleistung bewirken eine Verbesserung der Rekrutierung der motorischen Einheiten, Vergrößerung der intramuskulären Speicher von aeroben und anaeroben Metaboliten nd Enzyme, der Muskelmasse, der Knochenmasse sowie eine Verdickung der Bindegewebe. Der Schlüssel zur Erzeugung muskulärer Hypertonie ist die Spannung resp. Kraft, die ein Muskel gegen Widerstand entwickelt. Diese Spannung ist es auch, welche die Proliferation von Knochen- und Bindegewebszellen anregt. Die Muskelfasertyp – Zusammensetzung ist ein weiterer wichtiger Faktor in der Entwicklung von Kraft und Ausdauer.

  • Ein Muskel, der überwigend aus Typ 1 – Fasern (slow-twitch) besteht, besitzt ein begrenztes Kraftpotenzial und eine gute Entwicklungsfähigkeit für Ausdauer
  • Ein Muskel, der überwiegend aus Typ 2a – und 2b- Fasern besteht (fast-twitch), besitzt ein begrenztes Ausdauerpotenzial und eine gute Entwicklungfähigkeit für Kraft
  • Typ 2a – Fasern scheinen sich zu adaptieren, je nachdem, wie sie trainiert werden. Auf Ausdauer oder auf Kraft
  • Ein Muskel, der etwa eine gleiche Zusammensetzung von Typ1- und Typ2- Fasern besitzt, hat eine mittlere Entwicklungsfähigkeit sowohl für Kraft als auch für Ausdauer

Bei einer Muskelbelastung mit geringem Widerstand werden zuletzt die Ausdauerfasern rekrutiert. Erst bei hochintensiven Belastungen werden Kraftfasern zusätzlich rekrutiert. Die größten und stärksten motorischen Einheiten zuletzt. Zur Entwicklung eines optimalen Kraftniveaus muss deswegen der Muskel mit hochintensivem Widerstand belastet werden.

Normdaten und Therapieziel

In der Rehabilitation der Extremitäten werden die Kraftverhältnisse der unverletzten Gegenseite als Therapieziel betrachtet. An der Wirbelsäule ist dieser Seitenvergleich nicht möglich. Funktionelles Therapieziel ist die Funktionsverbesserung der LWS (isometrische und dynamische Kraft im gesamten Bewegungsumfang, Ausdauer, Beweglichkeit). Der gewünschte Kraftzuwachs wird erreicht durch dynamische Übungen, die langsam sowohl konzentrisch-dynamisch als auch exzentrisch-dynamisch ausgeführt werden mit einer maximalen isometrischen Spannungsentwicklung in voller Konzentration.

Ergänzende Therapiemaßnahmen

Es ist allgemein anerkannt, dass beim chronischen Kreuzschmerz die Kraft der gesamten Rumpfmuskulatur verbessert werden muss. Die Kraft der lumbalen Extensoren stellt das Glied in der Muskelkette dar, welche die LWS stabilisiert. Desegen ist die Kräftigung dieser Muskeln das primäre Therapieziel.

Wie bereits erwähnt, besitzen die Hilfstrageorgane der Wirbelsäule eine wesentliche Bedeutung bei der Stabilisierung der Bewegungselemente. Insbesondere die Bauchmuskulatur, die Glutealmuskulatur, die ischiocrurale Muskulatur, die seitliche Rumpfmuskulatur und auch die Brust- und Schultergürtelmuskulatur sollten im Rahmen einer medizinischen krankengymnastischen Therapie gekräftigt werden.

Kurze Literaturübersicht

In den ersten 3-4 Wochen eines Widerstandstrainings wird der Kraftzuwachs hauptsächlich durch die Verbesserung der neuronalen Rekrutierung bewirkt. Danach ist die Muskelhypertrophie der Hauptfaktor zur Verbesserung der Muskelkraft. Ein messbarer Zuwachs an Muskelmasse wird bereits nach 2 Monaten nach Therapiebeginn beobachtet. Eine Übersicht von FLECK und KRAMER zeigt, dass der durchschnittliche Kraftzuwachs bei verschiedenen Muskelgruppen zwischen 20 und 30% liegt. Bei den lumbalen Extensoren liegt der zu erwartende Kraftzuwachs wesentlich höher. Das liegt daran, dass ein atrophierter Muskel ein größeres Potenzial an Kraftzuwachs und Hypertrophie besitzt wie ein gut trainierter Muskel. Diese hohen Kräftigungseffekte lassen den Rückschluss zu, dass sich die lumbalen Extensoren bei Kreuzschmerzpatienten in einem ausgeprägten Zustand der Atrophie befinden. Mehrere Studien an größeren Kollektiven zeigen Kraftzunahmen nach 12-20 Therapiesitzungen.

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