Polyneuropathie im 21. Jahrhundert – unterschätzte Gefahr durch Vitamin B6
Immer mehr Menschen leiden unter Missempfindungen, Brennen oder Taubheitsgefühlen in Händen und Füßen – doch häufig fehlt die klassische Ursache wie Diabetes, Alkohol oder Chemotherapie.
Eine differenzialdiagnostisch dringend zu prüfende Ursache: Vitamin-B6-Toxizität durch Nahrungsergänzungsmittel.
Vitamin B6 – zwischen Notwendigkeit und Neurotoxizität
Vitamin B6 ist essenziell für zahlreiche enzymatische Reaktionen, insbesondere im Aminosäure- und Neurotransmitterstoffwechsel. Die aktive Form Pyridoxalphosphat (PLP) ist unentbehrlich für die Bildung von Serotonin, Dopamin, GABA und Noradrenalin.
Doch genau hier liegt die Gefahr: Vitamin B6 ist eines der wenigen wasserlöslichen Vitamine, das neurotoxisch wirken kann.
Toxische Schwelle oft überschritten – unbemerkt
• Empfohlene Tageszufuhr (D-A-CH-Referenzwert): 1,4 mg/Tag
• Dokumentierte toxische Schwelle: ab ca. 50 mg/Tag über Wochen bis Monate
• Viele Nahrungsergänzungsmittel enthalten 100–500 mg pro Tagesportion!
Chronisch erhöhte B6-Spiegel führen zu sensiblen, axonalen Polyneuropathien, meist symmetrisch distal betont.
Typische Symptome:
• Dysästhesien (Kribbeln, Brennen, Ameisenlaufen)
• Taubheit in Fingern und Zehen
• Feinmotorikstörungen
• Gangunsicherheit
• Zunehmend auch motorische Ausfälle bei fortgeschrittener Schädigung
Wer ist besonders betroffen?
• Sportlich aktive Menschen (z. B. in Fitnessstudios)
• Frauen mit „Stresspräparaten“ oder PMS-Supplementen
• Patienten mit Dauer-Einnahme von „Nervenvitamin“-Kombis (oft B1/B6/B12)
• Biohacker, orthomolekulare „Selbstoptimierer“
• auch Schwangere, wenn hochdosierte Kombis eingenommen werden
Labordiagnostik
• Vitamin B6 (Pyridoxal-5-Phosphat) im Serum oder Vollblut bestimmen
• Normalbereich: ca. 5–50 µg/l (je nach Labor)
• Bei neurotoxischer Wirkung oft >100 µg/l
Literaturquellen
1. Gdynia HJ et al. (2008): Polyneuropathie durch Vitamin-B6-Überdosierung – Nervenarzt 79(10):1193–1196.
2. Dalton K, Dalton MJ (1987): Characteristics of pyridoxine overdose neuropathy syndrome. Acta Neurologica Scandinavica, 76(1):8–11.
3. EFSA Panel (2006): Tolerable upper intake level for vitamin B6 – Scientific Committee on Food.
4. NIH Office of Dietary Supplements (2022): Vitamin B6 – Fact Sheet for Health Professionals.
Fazit
Die Zunahme idiopathischer Polyneuropathien im 21. Jahrhundert ist kein Zufall. Die massenhafte, unregulierte Einnahme hochdosierter Nahrungsergänzungsmittel – insbesondere Vitamin B6 – ist ein unterschätzter Risikofaktor.
Die Annahme, wasserlösliche Vitamine würden bei Überschuss einfach ausgeschieden, ist ein gefährlicher Irrtum.
Präventivmedizin muss differenzierter denken. Wer heilt, darf auch klar benennen, was schädigt.